Was besagt eigentlich „Humanismus“?

Heute findet der Begriff „Humanismus“ immer öfter als Gegenbegriff zu allen Formen des religiösen Glaubens, Denkens und Handelns Verwendung. Ein solcher Gebrauch entspricht indessen in keinster Weise der Begriffsgeschichte, sind doch die seit Friedrich Immanuel Niethammer (1808) sogenannten „Humanisten“ fast immer zumindest „Deisten“, Gottgläubige, oft auch entschiedene Christen gewesen (Stichwort: „humanitas christiana“). Historisch gesehen gehen Gedanke und Begriff der humanitas weitgehend auf Marcus Tullius Cicero (106 v. Chr.-43 v. Chr.), genauer auf dessen spezifisch römische Aneignung bestimmter Ideen der klassischen griechischen Philosophie zurück. Im Hintergrund steht hier zunächst das bekannte Sophokleische Wort: „Nichts aber gewaltiger als der Mensch“, dann aber die überragende Gestalt des Sokrates (bzw. des platonischen Sokrates) und hier wiederum die Idee des „Daimonion“ als verpflichtendes Gewissen, als Stimme Gottes (bei Sokrates ist es Apollon) in uns und damit als eigentlicher Grund für die Rede von einer besonderen menschlichen Würde. Diese Verbindung des Humanismus mit der Betonung des Gewissens als einer richtungsweisenden „höheren Stimme in uns“, dürfte das wichtigste Kennzeichen für einen Humanismus sein, der diese Bezeichnung verdient.

Cicero tritt insbesondere – und das ist richtungsweisend geworden – für eine Vollendung des Menschseins durch Bildung ein, wobei sein Bildungsbegriff umfassender, „universaler“ ist als der aller seiner Vorgänger. Der ganze Mensch möge sich zum Menschen im höheren Sinne dieses Wortes bilden. So finden wir beispielsweise im Ersten Buch von „De oratore“ die bezeichnende ciceronische Forderung an den angehenden Redner, gleichermaßen Geschichte, Philosophie und Jurisprudenz zu studieren. Damit haben wir ein erstes wichtiges Kennzeichen eines jeden Humanisten gefunden: seine breit angelegte Bildung oder zumindest Bildungsbemühung. Bei keinem anderen römischen Autor findet sich der Begriff humanitas (bzw. das Adjektiv humanus oder das Adverb humane) häufiger als in Ciceros Werken. Was er darunter näher hin verstanden hat, ließe sich beispielsweise aus dem Brief an seinen Bruder Quintus zum neuen Jahr 59 v. Chr. erschließen, dem er sehr beredt und differenziert eine humane Herrschaft in seiner Provinz anrät. Der Mensch vollendet sich, so ließen sich Ciceros Ausführungen paraphrasieren, über die entsprechende universale Erziehung sowie Selbstbildung durch Affektbeherrschung, Übernahme von Verantwortung sowie durch gelebte heitere und kultivierte Menschlichkeit. Vorrang vor aller körperlichen, organisatorischen und von Gesichtspunkten der Macht oder des Ehrgeizes bestimmten Tätigkeit hat die geistige, die Cicero einmal „Nahrung des Menschlichen im Menschen“ (cibus humanitatis), nennt – so wie er ein andermal die Freude an einer erreichten (bedeutenden) Erkenntnis als die menschenwürdigste, humanissima voluptas, anerkannt hat. Bei Cicero und ihresgleichen – man denke etwa auch an Horaz – konvergieren beides, heiter-geistreiches Gespräch und die Fähigkeit, Erkenntnisse um ihrer selbst willen zu schätzen, auf einander zu. Es reicht ein einziger Zusammenhang von den Scherzen und Späßen, wie sie Cicero und seine Freunde im Geiste miteinander treiben, bis hin zur Wissenschaft. Der junge Nietzsche hatte den damit verbundenen Reiz sehr wohl verstanden, wenn er sich nach einer „gaia scienza“, nach einer „heiteren Wissenschaft“, gesehnt hat. So auch – im Abstand von eineinhalbtausend Jahren von Cicero – Erasmus von Rotterdam (um 1467 bis 1536).

Vorausgegangen ist dem freilich ein ganz unvergleichliches Ereignis. Um das Todesjahr des Horaz herum wird Jesus Christus geboren und mit ihm erhellt eine neue Hoffnung die Welt. Ein menschenfreundlicher, liebender Gott offenbart sich, der den Menschen guten Willens ein ewiges Leben voller Glück, Liebe und Erkenntnis verheißt. Das Schicksal, so lautet diese Verheißung, habe für Christen keine Macht mehr über die Sterblichen. Eine Botschaft, die heute oft ganz verkehrt als Joch empfunden wird, ist damals ganz richtig als Befreiung von dem Albdruck, „fatum“ genannt, verstanden worden. Die frühesten Schriften der Christen sind dementsprechend voller Jubel, Triumph und Frohlocken über diese „frohe Kunde“ („eu-angelion“; Evangelium). Der konsequent auf sein Gewissen hörende Mensch, der die christliche Botschaft mit offenen Ohren und offenem Herzen vernommen hat, kann nun gar nicht anders als sich mit ganzer Kraft zu wünschen, dass der von den begeisterten Christen verkündete Gott real, der wahre und einzige, sei. „Gott“, das bedeutet fortan den Inbegriff alles Schöpferischen, Guten, Wahren, Schönen und Heiligen; das Wort verweist auf die vollkommene Person, die Gerechtigkeit zusammen mit Barmherzigkeit realisiert, womit der Glaube an diese Person mit inniger Freude verbunden ist. Gott, der Grund aller Ordnung und der Ursprung unseres edleren Selbst lebt mehr noch als in der Natur (Schöpfung) in uns, seinen endlichen Abbildern.

Man lese zum besseren Verständnis nur des Erasmus von Rotterdam „Colloquia familiara“! Es darf dieses unvergleichliche Werk wohl das „Grundbuch des christlichen Humanismus“ genannt werden. Es ist anspruchslos ohne seicht, tief ohne schwer, direkt ohne verletzend, demütig ohne kriecherisch, ernst ohne traurig, bestimmt ohne beliebig, konfessionell ohne engherzig, menschlich ohne „allzu menschlich“ (im Sinne Nietzsches) zu sein, weist es die menschliche Natur doch niemals ins Animalische. Es dürfte kaum ein Buch geben, aus dem eine größere Liebe zu den Menschen spricht – bei aller unvergleichlichen Klarheit, ja Schärfe des Blicks. Immerzu geht es um Bildung, aber „Bildung“ im Sinne dieses Werkes besagt weder Vielwisserei noch pedantische Büchergelehrsamkeit, sondern ist hier ein Kürzel für eine lebendige Einheit von Geistes- und Herzensbildung – ergänzt durch einen guten Schuss gesunden Menschenverstand.

Die Grundlage dieser Bildung aber ist für Erasmus ein geformtes (gebildetes) Gewissen. Auch Goethe hat das so gesehen: Unsterblich sein Wort: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“ Überall sei, so auch des Humanisten Goethe Maxime, das rechte Maß angezielt, getroffen und gewahrt: Übertreibungen jeder Art – alles Exzentrische, grob Disharmonische, Extreme, Brutale, Chaotische, Unproportionale, Verquere, Manierierte, Gärende, Groteske, Fratzenhafte – habe (im Bewusstsein des Humanisten) striktes Hausverbot. Wer die „Vertrauten Gespräche“ des Erasmus liest, wird am leichtesten und schnellsten mit dem christlichen Humanismus vertraut. Schöner dargestellt findet er sich bei Goethe. Tiefer als bei Erasmus und Goethe aber ist er etwa beim hl. Franz von Sales (1567- 1622) angelegt – wie man getrost behaupten darf, dass die Humanität eines Menschen in dem Maße wächst, wie dieser Christus ähnlicher wird: Was bei Sokrates und den „heidnischen Humanisten“ grundgelegt ist, wird durch viele christliche Heilige vollendet. Die Kurzformel für „Humanismus“ lautet „umfassende gediegene Menschlichkeit“, die für einen vollendeten „christlichen Humanismus“ aber „menschlich gebliebene Heiligkeit“.

Fazit: Wir sollten uns den schönen und guten alten Begriff des Humanismus nicht von jenen wegnehmen lassen, die nichts als die (auf eine bestimmte ideologische Weise verstandenen) Naturwissenschaften gelten lassen und alles Menschliche gewaltsam in diesen allzu engen Rahmen pressen wollen. Es gibt keinen Humanismus auf rein naturwissenschaftlicher Basis, der diesen Namen verdient hat.

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