Warum besuchte Maria ihre Verwandte Elisabet? Warum eilte sie zu ihr? Manche sagen, Maria wollte ihrer Verwandten, die ein Kind erwartete, beistehen und ihr bei der Geburt ihres Kindes (Johannes) helfen. Aber das war sicher nicht der Grund ihres Besuches. Und davon wird im Evangelium auch kein Wort erwähnt. Gewiss: Elisabet war im sechsten Monat, und Maria blieb drei Monate bei ihr. Sicher war ihr Maria bei der Geburt des Kindes behilflich. Aber das war nicht der Grund ihrer Reise. Nein, es ging um etwas ganz anderes.
Man muss sich einmal die Situation von damals vorstellen: Israel hatte fast 2000 Jahre lang auf den Messias, den Retter, gewartet. Immer wieder haben die Propheten sein Kommen verheißen. Und das Volk wusste: Jetzt ist die Zeit für die Ankunft des Messias reif geworden. Man spürte: Jetzt wird er kommen. Auch Maria wusste das.
Und plötzlich erscheint der Engel Gabriel der Jungfrau Maria und verkündet ihr: DU bist die Begnadete, du bist die Auserwählte, du wirst die Mutter des Messias sein. Diese Botschaft muss doch Maria wie ein Blitz getroffen haben! Damit hatte sie doch niemals gerechnet. Das war für sie unvorstellbar. Sie war ein unbekanntes Mädchen, aus dem kleinen Ort Nazareth, vielleicht 14 Jahre alt. Sie hatte schon andere Pläne, sie war ja schon verlobt. Und jetzt wird sie plötzlich aus dem Geleise geworfen, aus dem gewohnten Alltag. Plötzlich war alles anders. Plötzlich steht sie irgendwie im Mittelpunkt der ganzen Heilsgeschichte.
Ich denke, einerseits war Maria von unfassbarem Glück erfüllt, geradezu überschüttet, andrerseits so überrascht, dass sie nicht wusste, wie ihr geschieht, und was das alles bedeutet, was sie nun machen soll, und wie es weitergeht. So fragt sie den Engel: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?“ Diese Frage ist kein Zweifel an der Botschaft des Engels. Nein, Maria hat geglaubt. Und gerade deswegen fragt sie, was sie tun soll, um der Botschaft gerecht zu werden, um dem Willen Gottes zu entsprechen.
Maria konnte ja nicht auf die Straße gehen und den Leuten sagen, ihr sei ein Engel erschienen mit der Botschaft, dass sie die Mutter des verheißenen Messias sei. Man hätte sie doch ausgelacht und für verrückt erklärt. Oder sollte sie gar zum Hohenpriester gehen? Das alles war doch unmöglich. Die Auserwählung hat Maria innerlich einsam und hilflos gemacht. Sie konnte ihr Geheimnis niemanden anvertrauen. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, und wie es weitergehen sollte.
Aber in dieser ihrer inneren Not hat ihr der Engel doch einen Hinweis gegeben und gesagt: „Auch Elisabet, deine Verwandte, hat ein Kind empfangen, obwohl sie schon alt war und als unfruchtbar galt, denn bei Gott ist nichts unmöglich.“ Jetzt wusste Maria: Auch Elisabet ist in dieses wunderbare Erlösungsgeschehen mit einbezogen. Auch sie hat ein Kind auf außergewöhnliche Weise empfangen. Freilich, nicht durch das Wirken des Hl. Geistes, aber doch auf wunderbare Weise, denn sie war ja schon alt und unfruchtbar. Zu ihr musste Maria gehen, mit ihr musste sie sprechen, ihr konnte sie ihr Geheimnis anvertrauen. Und deshalb eilte sie zu ihr. Es wird eigens betont: Sie eilte. Wenn Maria bei Elisabet nur hätte helfen wollen, hätte sie nicht zu eilen brauchen, denn es waren ja noch drei Monate Zeit bis zur Geburt des Kindes. Sie eilte, denn es brannte in ihrem Herzen. Sie musste doch mit jemanden sprechen über ihr Glück, und was sie tun sollte, und wie es weitergehen sollte.
Und so begegnen einander die beiden gesegneten Frauen und ihre Kinder. Eine wunderschöne Begegnung! Und um diese Begegnung geht es. Das ist der Höhepunkt im heutigen Evangelium. Schon bei der Begrüßung durch Maria hüpfte das Kind im Schoß der Elisabet. Und Elisabet spürte, das ist keine gewöhnliche Begegnung wie sonst. Nein, hier ist Gott am Werk. Unwillkürlich denkt man an David, der vor der Bundeslade hüpfte und tanzte. Und jetzt kommt Maria, die Bundeslade des Neuen Testamentes, die den Herrn in sich trägt, zu Elisabet, und da hüpfte das Kind in ihrem Leib wie damals David vor der Bundeslade. Sind das nicht wunderbare Zusammenhänge?
Und vom Hl. Geist erfüllt ruft Elisabet aus: „Gesegnet bist du mehr als alle anderen Frauen, und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ Woher wusste Elisabet, dass Maria die Mutter des Herrn ist? Der Hl. Geist hat es ihr offenbart. Und für Maria waren diese Worte eine Bestätigung ihrer Gottesmutterschaft. Und diese Bestätigung hat sie wohl auch gebraucht. Nun wusste sie ganz sicher, sie hat die Verkündigung durch den Engel nicht geträumt, es war keine Täuschung. Nein, der Herr hat wirklich in ihr menschliche Gestalt angenommen. Sie ist die Erwählte, die Begnadete, die Mutter des Messias.
Und jetzt jubelt Maria voller Freude Ihr Magnifikat: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter.“ Sie weiß und bekennt: „Ich bin nur seine niedrige Magd. Aber er hat an mir Großes getan, so Großes, dass mich jetzt alle Geschlechter selig preisen.“ (Das sagt ein Mädchen von 14 Jahren: „Von nun an preisen mich selig alle Geschlechter!“) Und damit schließt sich der Kreis zu uns hier und heute. Zu uns, die wir jetzt hier der Mutter Maria gedenken. Denn zu den „Alle Geschlechter“ gehören doch auch wir. Jedesmal, wenn wir das Ave Maria beten, oder den Rosenkranz, den Engel des Herrn oder das Magnifikat, erfüllen wir diese Prophezeiung und preisen wir Maria selig. Dann sind wir mitten hineingenommen in die Szene, nicht nur als Zuschauer im Abstand von 2000 Jahren, sondern wir sind mit auf der „Bühne“. Nicht nur als Statisten sondern als Mitwirkende, als Mithandelnde, als Erfüller dieser Prophetie. – Ist das nicht großartig!? Es ist also Gegenwart, auch wenn 2000 Jahre dazwischen liegen. Wir preisen Maria selig, weil Gott an ihr Großes getan hat, weil er in ihr menschliche Gestalt angenommen hat, weil sie die Muttergottes ist. Wir preisen sie selig, weil sie uns den Erlöser gebracht hat. Amen.