Sehr geehrter Herr Kardinal, Sie leiten den Vatikanischen Rat für die Einheit der Kirchen. Wie sehen Sie die Botschaft von Fátima heute?
Es ist ein deutliches Zeichen, dass die Botschaft von Fátima im Jahr 1917 erfolgt ist als eine Initiative des Friedens mitten im grausamen und völlig nutzlosen Ersten Weltkrieg. Eine ökumenische Dimension kann man zunächst in der Tatsache sehen, dass 2017 nicht nur 100 Jahre vergangen sind, seit die Botschaft von Fatima ergangen ist, sondern auch 500 Jahre seit dem Beginn der Reformation, wenn man ihn mit dem so genannten Anschlag der Thesen über den Ablass in der Schlosskirche in Wittenberg ansetzt. Es wäre gewiss gut, die beiden Gedenkjahre miteinander in Beziehung zu bringen und eine neue Brücke zwischen der ökumenischen und der marianischen Frage zu bauen. Denn die Gestalt Maria kann auch in ökumenischer Hinsicht etwas sehr Verbindendes und nicht Trennendes sein. Es gibt bei den Reformatoren, Luther, Zwingli und Calvin, sehr schöne Texte über Maria, die in der evangelischen Tradition etwas in Vergessenheit geraten sind.
Das Herzensanliegen der evangelischen Christen ist die Christozentrik, die Ausrichtung auf Christus hin.
Maria ist die Gestalt, die uns ganz zu Christus hin führen will. Das ist auch die zentrale Botschaft von Fátima. Ich kenne keine christozentrischere Gestalt als Maria. Für mich ist da immer wieder die schöne Szene von Kana von Bedeutung, in der sich die Gastgeber der Hochzeit an Maria wenden und sie nur eine Antwort gibt: Tut, was er euch sagt! (Joh 2,5) Das ist die klare Botschaft auch von Fátima, die ins Zentrum des Evangeliums hinein führt. Maria ist gleichsam die Türe, um in die Gemeinschaft mit Christus hinein zu kommen. Von daher wäre es sehr schön, wenn die beiden Jubiläen 100 Jahre Fátima und 500 Jahre Beginn der Reformation einander mehr zu sagen hätten, als ich das bisher feststelle.
Mich beeindruckt an der Botschaft von Fátima, dass sie gleichzeitig etwas Geistliches sowie auch etwas Politisches mit sich bringt. Ist die Gestalt Mariens nicht auch „politisch“ und damit nicht allein geistlich zu sehen? Das könnte eine weitere Brücke hin zu den evangelischen Christen sein. Man denke nur an das „Magnificat“ Mariens, in dem es heißt, die Mächtigen würden depotenziert, die Niedrigen aber erhöht. Das ist eine durchaus politische Botschaft.
Ja, aber dieser Aspekt sollte nur in einer Synthese präsentiert werden, nicht indem der aktive und politische Aspekt gegen den geistlichen Aspekt des Hörens Mariens auf das Wort Gottes gestellt wird. Für mich ist es ebenfalls entscheidend, dass Maria diejenige ist, die für das Wort Gottes ganz empfänglich ist und dieses Wort Gottes schon in ihrem Leib empfangen hat, bevor sie es der Welt geschenkt hat. Insofern ist Maria für mich die personifizierte Gestalt der Rechtfertigungslehre. Darin erkenne ich eine weitere Brücke zu den evangelischen Christen. Das „Magnificat“ nimmt übrigens das Evangelium Jesu Christi voraus. Es zeigt, dass Jesus in die Schule seiner Mutter gegangen ist und von ihrer tiefen Frömmigkeit viel gelernt hat.
Foto: Kurt Kard. Koch zu Besuch beim Chefredakteur des „Bote von Fatima“ Prof. Sigmund Bonk am 24.09.2016 (Urheber: V. Neumann)